Das Knistern des gefrierenden Atems

20.02.2013

Der Künstler Juergen Staack nimmt in Sibirien das "Sternenflüstern" auf. Bei minus 57 Grad mit einem Sennheiser MKH 8060 Richtrohrmikrofon.


 

Alles begann mit einer „arte“-Dokumentation über den kältesten bewohnten Punkt der Erde, Oimjakon im fernen Osten Russlands. In der Sendung wurde das „Eisflüstern“ erwähnt, das bei extremen Temperaturen beim Atmen und Sprechen entsteht. Der Atem gefriert und erzeugt dabei Geräusche, ein Knistern, das dem Gesprochenen wie ein Schatten folgt.
 

 


Thomas Neumann (l.) und Juergen Staack

 


Fasziniert von der Vorstellung, dass Worte zu klingenden Kristallen werden, reiste der Künstler Juergen Staack 2012 in Begleitung seines Künstlerkollegen Thomas Neumann nach Jakutien. Die Sound-Arbeiten, die Staack von dort mitbrachte, sind noch bis zum 1. März in der Ausstellung SAKHA in der Konrad Fischer Galerie Berlin zu sehen. Auf der akustischen Jagd nach dem seltenen Geräusch des Eisflüsterns – von den Einheimischen Sternenflüstern genannt – begleitete Juergen Staack unter anderem ein HF-Kondensatormikrofon MKH 8060 von Sennheiser.

 

 

Die Reise zum Kältepol
Gefördert von der Kunststiftung Nordrhein-Westfalen machten sich Staack und Neumann im Januar 2012 nach Jakutsk auf, der Hauptstadt der Republik Sacha (Jakutien). Minus 35 Grad am Flughafen gaben einen Vorgeschmack auf die zu erwartenden Temperaturen an ihrem eigentlichen Ziel Oimjakon. 1926 sollen dort minus 71,2 Grad gemessen worden sein, was dem Dorf den Titel „Pole of Cold“ einbrachte.
 

 



Fischmarkt in Jakutsk

 


Die erste Woche in Jakutsk verging mit der Planung der Weiterreise. „Wir mussten warten, bis sich genügend Fahrgäste für einen Kleinbus nach Oimjakon eingefunden hatten“, erinnert sich Juergen Staack. „Als der Fahrer schließlich genügend Passagiere zusammen hatte und wir uns auf die 24-stündige Fahrt begaben, war uns schon ein wenig mulmig, denn wenn man bei diesen Temperaturen mit einer Panne liegen bleibt…“
 

 


Oimjakon, der kälteste bewohnte Punkt der Erde

 


Auf der „Straße der Knochen“, Kolyma, ging es rund 700 Kilometer in nordöstlicher Richtung. Der kleine Ort Oimjakon liegt in einem windstillen Tal, aus dem die kalte Luft nicht entweichen kann – deshalb kommt es dort im Winter zu besonders tiefen Temperaturen.

„In den ersten Tagen dort war es mit minus 48 Grad – nicht lachen – offensichtlich zu warm für das Eisflüstern. Wir haben die Temperatur, die man bisher für das Eisflüstern für erforderlich hielt, nämlich minus 45 Grad, nach unten korrigieren müssen. Dass sich kein Geräusch hören ließ, hat uns zugegebenermaßen aber auch nervös gemacht. Es gab zwar Berichte über das Sternenflüstern, aber keine Aufnahmen: Vielleicht war das Ganze doch nur ein Mythos?“

 

 

Die Wartezeit auf kälteres Wetter und damit die Gelegenheit, das Sternenflüstern aufzunehmen, verbrachte Staack mit anderen Audio- und Videoaufnahmen für SAKHA, darunter Gespräche mit dem ortsansässigen Meteorologen und Anwohnern, die über ihre Erlebnisse mit dem Eisflüstern berichteten. „Einige kannten das Phänomen gar nicht, einige wussten davon aus ihrer Jugend zu berichten“, erzählt Staack. „Das Geräusch scheint immer seltener geworden zu sein. Für mich wurde die Erderwärmung an diesem Beispiel greifbar. Auch ein nahes Kohlekraftwerk mag seinen Einfluss darauf haben, dass die Temperaturen in Oimjakon nicht mehr so tief fallen wie vor einigen Jahren noch.“

 

 

Am Ziel
Doch Staack und Neumann blieben am Ball und standen Nacht für Nacht Gewehr bei Fuß. Die Geduld wurde schließlich belohnt. Juergen Staack: „Wir waren wie jede Nacht zu Aufnahmen nach draußen gegangen, doch dieses Mal waren die Temperaturen tiefer gefallen, auf minus 57 Grad.

Und plötzlich war es da, beim Atmen und Sprechen entstand ein Geräusch, ein Klirren, ein rauschendes Knistern, das dem Wort und Atem nachhallte und wie ein Schatten folgte. Im Gegenlicht sah man, wie sich der Atem verwirbelte.“ In der nächsten Nacht war der zauberhafte Spuk schon wieder vorbei – wider Erwarten war es wärmer geworden.

Nach rund drei Wochen in Sibirien begaben sich die beiden zurück nach Deutschland, wo sich Juergen Staack im Laufe des Jahres an die Aufbereitung des Materials und die Ausgestaltung der Ausstellung SAKHA machte.

 

 

 


 

 

Die Installation in Berlin
Der Besucher von SAKHA betritt in der Konrad Fischer Galerie Berlin zunächst einen weißen Raum. Visuell wird er durch ein stilles, betrachtendes Video auf die Ruhe der Landschaft und des Lebens in Oimjakon eingestimmt. Auf dem Boden sind vier dunkelgraue Lautsprecherwürfel aus Beton im Quadrat angeordnet und geben einen Minispaziergang im Schnee wieder.

 

„Mir ist aufgefallen, dass der Schnee in Oimjakon bei jeder Temperatur anders klingt. Für die Installation habe ich ein Quadrat abgelaufen und das Knirschen meiner Schritte im Schnee aufgenommen. Steht der Besucher innerhalb des Quadrates, so hört er, wie ein Mensch durch den tiefen Schnee um ihn herumläuft.“

 


Videoscreen in der Ausstellung: Der Geologe Valery Vinokurov im Gegenlicht

 

An einer Wand sind kyrillische Buchstaben mit Lack aufgemalt – ein Text, der das Eisflüstern beschreibt. Von dort geht es in einen dunklen Raum, in dem Valery Vinokurov (Geologe/Meteorologe) auf Jakutisch spricht: Im Gegenlicht aufgenommen, beschreibt er das Sternenflüstern, sein Atem zeichnet dabei weiße Turbulenzen und Schleier in die Schwärze. Ein weiterer dunkler Raum ist dann ganz dem eigentlichen Sternenflüstern vorbehalten – das dank des Künstlers zum ersten Mal aufgenommen werden konnte.

 

Ausstellungsinformationen
SAKHA: bis zum 2. März 2013 in der Konrad Fischer Galerie Berlin, Lindenstraße 35, 10969 Berlin,
Tel.: 030/5059 6820
Öffnungszeiten: Dienstag bis Samstag, 11.00 bis 18.00 Uhr

 


 

 

Das MKH 8060
Das MKH 8060 ist ein kurzes Richtrohrmikrofon, das sich dank seines HF-Kondensatorprinzips ganz besonders für hochwertige Tonaufnahmen in klimatisch schwierigen Umgebungen eignet.

„Die Reise von Juergen Staack zum kältesten bewohnten Punkt der Erde ist auch für das MKH 8060 ein Kälterekord“, erklärt Sennheiser-Produktmanager Kai Lange. „Die MKH-Mikrofone bringen zum Glück durch ihr HF-Kondensatorprinzip von Haus aus zwei Vorteile für widriges Wetter mit: eine hohe HF-Spannung an der Kapsel und eine sehr niedrige Kapselimpedanz.“
 

 


Das Sennheiser MKH 8060

 


„Die hohe HF-Spannung an der Kapsel drückt in kritischen Situationen, zum Beispiel bei Außenaufnahmen im Nebel, die Feuchtigkeit sozusagen aus dem Mikrofon“, fährt Lange fort. „Bildlich gesprochen ‚bemerkt‘ die Kapsel die hohe Luftfeuchtigkeit und trocknet sich selbst.“

„Der zweite Vorteil ist die niedrige interne Kapselimpedanz, die bei weniger als 1 Kiloohm liegt, während herkömmliche Kondensatorkapseln hier je nach Frequenz eine deutlich höhere Impedanz von 200 Kiloohm bis 200 Megaohm haben. Bei diesen hohen Impedanzen führt die kleinste Störung der Isolation direkt zu einem Ausfall der Kapsel, wohingegen das HF-Kondensatormikrofon sich absolut robust verhält.“

 


 

 

Interview mit Juergen Staack
Herr Staack, wie sind Sie auf die Idee gekommen, Eisflüstern aufnehmen zu wollen und in einen künstlerischen Kontext zu stellen?

 

Ich war fasziniert von der Idee, dass Atem bei sehr tiefen Temperaturen gefriert und unter Geräuschen zu Kristallen wird. Eine sehr romantische Vorstellung, die mich einfach nicht mehr losgelassen hat. Bisher hatte noch niemand dieses Phänomen aufzeichnen können, und selbst noch während meines Aufenthalts in Sibirien habe ich manchmal geglaubt, dass das Ganze vielleicht doch nur ein Mythos ist.

Ich beschäftige mich seit langem damit, Fotos in Sprache und Geräusche umzuwandeln und sie dadurch zu abstrahieren und ihnen eine neue Wertigkeit zu geben. Ich komme aus der fotografischen „Ecke“ und war nach meiner Ausbildung rasch desillusioniert vom Medium Foto: Jeder konsumiert es, keiner zweifelt es an, innerhalb der Flut an Bildern hat das einzelne Foto keine Bedeutung, keinen Wert mehr.

In meiner künstlerischen Arbeit lasse ich darum Bilder eine Art Impulsgeber sein. Ich gebe Menschen Bilder und lasse sie darüber sprechen, lasse sie zum Beispiel das Bild beschreiben. Das hat auch mein Interesse an Sprachen geweckt, denn je seltener eine Sprache ist, desto verschlüsselter wird diese Beschreibung; ich brauche dann einen Mittler in die Gedankenwelt, für die diese Sprache der Ausdruck ist.

 

Haben Sie in Sibirien auch Sprachdokumente aufgenommen?

 

Ja, für die Ausstellung selbst haben wir einen Geologen aufgenommen, der in Oimjakon lebt und das Phänomen des Eisflüsterns in seiner Muttersprache Jakutisch beschreibt – mit anschaulichen Temperaturbeschreibungen, wie zum Beispiel: „so kalt, dass die Vögel im Fluge erfroren zu Boden fallen“. Außerdem haben wir Tamara, Jegorov und weitere Einwohner des Dorfes aufgenommen.

Und natürlich habe ich in der Zeit, in der wir auf kälteres Wetter gewartet haben, Material für meine Bildbeschreibungen gesammelt. Meist ist es so, dass in meinen Gesprächen mit den Menschen zunächst die Beschreibungen im Fokus sind, dann packt mein Gegenüber aber meist sehr schnell Geschichten aus, singt Lieder – die Folklore eines Volkes entfaltet sich sozusagen vor mir.

Aus Sibirien habe ich die Sprachen und Gesänge der Ewenken und Ewenen mitgebracht, die nur 2,2 bzw. 1,6 Prozent der Bevölkerung der Republik Sacha stellen. Bei den Aufnahmen sind auch Teilstücke von „Olonkhos“ dabei, schamanische Geschichten und Gesänge der Jakuten, die zwischen 10.000 und 40.000 Strophen haben und über mehrere Abende hinweg gesungen und gesprochen werden.

 

 


Thomas Neumann (l.) und Juergen Staack mit zwei Olonkho-Sängern

 

 

Das technische Equipment, das sie auf dieser Reise begleitet hat, ist eigentlich für deutlich gemäßigtere Temperaturen ausgelegt. Was waren die größten Herausforderungen und welche Maßnahmen haben Sie ergriffen, um die Technik am Laufen zu halten?

 

Wir haben uns so gut wie möglich vorab informiert, mit vielen Leuten gesprochen, unter anderem mit Sennheiser. Natürlich gibt es kein technisches Gerät, das jemals unter solchen Bedingungen getestet worden wäre, und im Internet kursierten die wildesten Geschichten von geplatzten Displays und gebrochenen Kabeln.

Wir haben dann sowohl auf Qualität als auch auf Quantität gesetzt und sehr viel Ausrüstung mitgenommen, damit wir immer Ersatz haben würden, wenn etwas ausfiel. Dabei haben wir Geräte und Zubehör von möglichst vielen verschiedenen Herstellern benutzt, Spezialgerät mitgenommen, wo möglich, und analoges mit digitalem Equipment kombiniert.

Tatsächlich war einiges von den Geschichten wahr – Standardkabel sind uns in der Tat zerbrochen. Einmal bin ich mit dem Equipment im Schwung nach draußen geeilt, und die Kabel sind genau in diesem Schwung steif gefroren und ließen sich nirgendwo mehr unterbringen. Also musste ich erst wieder reingehen und sie behutsam auftauen.

Bei der digitalen Kamera wurden die Kristalle in den Displays erst unendlich langsam, bevor das Display dann ganz ausfiel; die Kamera funktionierte allerdings noch. Bei der analogen Kamera konnte ich merken, wie der Verschluss langsam einfror.

Wir haben dann so unsere Techniken entwickelt: Die Batteriepacks und die Recorder haben wir am Körper getragen, die entsprechenden Kabel haben wir durch die Ärmel gezogen und alles, was draußen sein musste, haben wir erst kurz vor den Aufnahmen herausgeholt und schon drinnen angestellt. Nicht nur, dass man mit den dicken Handschuhen keine kleinen Schalter mehr bedienen konnte; einiges Equipment funktionierte einwandfrei, wenn drinnen angestellt, verweigerte sich aber, wenn es bei -50° loslaufen sollte…

 

 

 

Was ist Ihr Fazit aus dieser Reise?

 

Wir haben das Sternenflüstern festhalten können, das ist für mich der größte Erfolg. Ich hätte gerne noch eine zweite Aufnahme gemacht, aber das Wetter war uns nur einmal so wohlgesonnen. Uns sind viele freundliche Menschen eines einzigartigen Volkes begegnet, Menschen mit faszinierenden Traditionen und einem alten Glauben. Man kann Fernweh nach Jakutien bekommen…

 


 

 

Juergen Staack
Juergen Staack lebt und arbeitet in Düsseldorf. Nach dem Abschluss seiner Fotografenausbildung studiert Staack an der Kunstakademie Düsseldorf. Er wird Meisterschüler bei Prof. Thomas Ruff und macht 2008 seinen Abschluss bei Prof. Christopher Williams.

Zahlreiche Förderpreise und Stipendien, u.a. von der Kunststiftung NRW, haben Juergen Staack Aufenthalte in Tokio, São Paulo, Sibirien und Seoul ermöglicht. Neben diversen Einzel- und Sammelausstellungen in Boston, Tokio, Riga, Düsseldorf, Essen und Berlin ist Staack Mitbegründer des Künstlerkollektivs „Fehlstelle“.

 

www.konradfischergalerie.de

www.juergenstaack.com

 

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